Meine Mutter ist eine reinblütige Schwäbin – und wer mit diesem Kaliber von Mater schon einmal konfrontiert war, wird sofort verstehen, was ich damit meine. Die „jüdische Mutter“, die in unseren Breiten vor allem durch Paul Watzlawicks mittlerweile legendäre Anleitung zum Unglücklichsein bekannt wurde, ist ein Waisenmädel im Vergleich mit dieser Spezies. Die schwäbische Mutter ist hart, unbestechlich, pragmatisch und von einer gewissen Originalität in der Wahl ihrer Waffen. Sie verhätschelt ihren Nachwuchs nicht, denn sie weiß: Nur die Harten kommen in den Garten. Sie orientiert sich an dezidierten Wertvorstellungen und ist sich der „Wer grüßt wen zuerst“-Hierarchie in der Nachbarschaft jederzeit bewusst. Sie geht zur Kirche, aber weniger aus spirituellen denn praktischen Überlegungen, denn immerhin hat sie ihr Leben lang Kirchensteuer bezahlt und will den Lohn Gottes noch auf Erden in Form einer soliden Beerdigung einkassieren. Sie spricht breites Schwäbisch und hat gern Hohn übrig für jene, die einen anderen Dialekt pflegen.

So rief einmal ein Kollege aus Bayern bei ihr an, um nach mir zu fragen. Er hatte einen gewissen lokalen Zungenschlag. Sie sagte unverfroren zu ihm: „Tut mir leid, ich verstehe sie nicht. Ich spreche nur Deutsch.“ Noch Monate später hat sie über diesen Witz hämisch geschmunzelt.

Wenn sie mich bittet, ihr DEN Butter zu geben, und ich sie behutsam korrigiere: „DIE Butter, Mutter“, dann lächelt sie und meint: „Hat sich doch gelohnt, dich studieren zu lassen.“

Meine diesbezüglichen Leistungen (ein phänomenaler Magisterabschluss) schmäht sie natürlich gern. Neulich hab ich sie dabei ertappt, wie sie im Gespräch mit einem Nachbarn, der sich über die vielen Schularbeiten seiner Sprösslinge beklagte, behauptete, dass ICH als Kind ja NIE Hausaufgaben gemacht habe. Eine dreiste Lüge, deren Ausmaß sie nicht kümmert. Sie hält eben nichts davon, wie gewisse andere Leute die ranzige Brut in Gold zu tauchen und zu beweihräuchern. Einmal schwärmte eine Lehrerin von mir ihr gegenüber, ihre Tochter – damit meinte sie mich! – sei eine echte Bereicherung ihres Unterrichts. Meine Mutter konnte es sich nicht verkneifen, darauf keck wie folgt zu antworten: „Reden wir vom selben Kind?“

Einmal, ein einziges Mal in meinem erwachsenen Leben, bin ich in den falschen Zug eingestiegen. Grund war eine unglückliche Verkettung widriger Umstände. Naiv, wie ich damals noch war, erzählte ich meiner Mutter davon. Trotz ihres schlechten Gedächtnisses kann sie sich bis heute daran erinnern, dabei ist es mindestens schon 20 Jahre her. Bei jeder

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Gelegenheit schmiert sie mir es auf den Briegel (schwäbische salzige Gebäckspezialität). Einmal verteidigte ich mich mit den Worten – damals arbeitete ich noch als Reiseleiterin: „Hey Mam, sie vertrauen mir wildfremde Menschen an, damit ich sie am anderen Ende der Welt begleite und sicher nach Hause bringe.“ Worauf sie entgegnete: „Darüber wundere ich mich auch jeden Tag.“ Ist ja wahr. Ich reise allein bis nach Australien und zurück, streune durch Indien und fliege nach Mittelamerika – aber in meiner Heimatstadt bin ich ganz offensichtlich nicht einmal in der Lage, mit dem Bus zum Bahnhof zu fahren. Wohlgemerkt, sie sorgt sich nicht. Sie macht sich nur darüber lustig.

Von ihren Nachbarn hält sie in der Regel nicht viel, ebenso wie von anderen Menschen. Und meistens, sagt sie, habe sie damit Recht. Eine junge Nachbarin sprach sie einmal wie folgt an: „Sie, ihr Mann, also der ist mir schon suspekt. Der ist immer so munter und freundlich, und grinst immer so, wenn er grüßt…“ Das grundlegende Misstrauen hindert sie nicht an gewissen Sympathien wenigen Auserwählten gegenüber. Ihre Gunstbezeugungen haben meist die Form von kleinen Neckereien. Beliebtes Ziel war einmal ein spezieller Nachbar, dem es seit der Scheidung von seiner Frau eh viel zu gut gehe, wie sie befand, er sei jetzt immer so gut gelaunt. Natürlich gönnt sie es ihm, aber sie muss wissen, ob es echt ist, und an der Oberfläche kratzen. So freut sie sich bis heute darüber, dass er extrem besorgt reagierte, als sie ihn einmal fragte, ob die Früchte ihres Kirschlorbeers wohl giftig seien. Ihn fragte, während sie dabei auf irgendetwas herumkaute.

Dabei verfügt meine Mutter durchaus über eine besondere Art des Einfühlungsvermögens. Sie meint, dass Blumen nie so schön blühen, wie wenn ihr Besitzer im Sterben liegt. Als eine Freundin einmal ihren Zustand beklagte, versetzte meine Mam nur lapidar: „Stellen sie sich nicht so an. So kümmerlich, wie ihre Blumen sind, kann’s ihnen gar nicht schlecht gehen.“

Ihre Gesundheit ist im Alter natürlich eine Sache für sich. Ihrer Ärztin wirft sie vor, sie so lange auf Diabetes getestet zu haben, bis sie die Krankheit dann auch wirklich hatte. „Sind sie jetzt zufrieden“, wollte sie wissen, als ihr das Testergebnis präsentiert wurde. Das Alter kotzt sie an, sagt meine Mutter. Ihre Überlegungen, dem irdischen Dasein vor Zeiten ein Ende zu bereiten, sind deshalb recht vielfältig. Zum Beispiel liebäugelte sie eine Zeitlang mit einem Organspenderausweis, „denn dann werden die mich schon nicht so lange leben lassen.“ Als ich sie darauf hinwies, dass eine Leber ihres Alters nicht unbedingt allzu begehrt sei, überlegte sie: „Dann bestell ich mir einfach Essen auf Rädern.“ Mittlerweile hat sie diese Entscheidung in die Hände eines gnädigen Schicksals gelegt. Ihr Keller sieht aus wie ein Abenteuerspielplatz, den selbst ein Indiana Jones nur mit viel Glück lebend verlassen wird.

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Sie dagegen krabbelt immer wieder wohlbehalten die mit Todesfallen vollgestellte Kellertreppe herauf. Mir schlägt jedes Mal das Herz bis zum Hals, wenn ich es selbst schaffe.

Neulich rief ich bei ihr an. Sie hob ab, grunzte in den Hörer: „Hmmm?“
Ich fragte: „Mam?“
„Hmm-mmm“
„Ach so“, folgerte ich scharfsinnig, „du hast grade was im Mund (eine Spülung gegen Zahnfleischbluten, wie sich später herausstellte) und kannst nicht sprechen.“ „Hmm-hmm.“

„Tja, dann reden wir halt ein andermal. Tschüss dann!“ „Hmmm.“

So beendeten wir das Gespräch. Eine Mutter, die keine schwäbische Mutter ist, hätte den Hörer unter solchen Umständen NICHT abgenommen.

Muss ich noch mehr sagen, oder verstehen Sie jetzt, was ich meine?