Alles oder Nichts

Alles oder Nichts

Seit Machtübernahme der sozialen Medien bekommen wir sie täglich um die Ohren geschlagen: Lebensmottos, erfrischend in ihrer Unoriginalität, überwältigend in ihrer Banalität und unerbeten in ihrer Onmipräsenz. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, tönt es da zwischen niedlichen Katzenfotos, oder auch „Tanze, als ob dir niemand zusieht.“ Am beliebtesten sind Varianten des Carpe-Diem-Themas, und allen voran dieser: „Lebe jeden Tag, als wäre er der letzte.“ Und das ist nun wirklich das Dümmste, was man tun könnte.

Es ist so dumm, dass sich selbst jene, die den Spruch auf die virtuelle Stirn tätowieren, nicht überwinden können, es wirklich durchzuziehen. Man muss nicht den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gesehen haben, um zu wissen, wie ein Tag, der keinerlei Konsequenzen nach sich zieht, letztendlich aussehen wird: Exzesse und Extravaganzen jeder Art. Weshalb auch nicht, wenn kein Hangover am Morgen danach zu befürchten ist? Mal ehrlich: wer würde am letzten Tag seines Lebens noch zur Arbeit gehen? Wer eine Versicherung abschließen, verhüten oder sich einen Bypass legen lassen? Miete zahlen, mit dem Kind zur Schule statt in den Park fahren oder sich gesund ernähren? Einzig Martin Luther wäre noch im Schrebergarten unterwegs, um ein Apfelbäumchen zu pflanzen. (Das er dann kurz darauf wieder rausziehen müsste, weil es eben doch nicht sein letzter Tag war und die Gartenverwaltung den Obstbaum nicht genehmigt hat.)

Am letzten Tag unseres Lebens würden wir die Liebsten besuchen, nachdem wir dem Chef endlich unsere Meinung gesagt hätten. Wir würden ihnen alles sagen, was es zu sagen gäbe. Und was würden wir ihnen dann morgen sagen, und übermorgen? Wir würden versuchen, noch ein, zwei Einträge auf der „Bucket List“ abzuhaken – was am Tag darauf höchstwahrscheinlich strafrechtliche Verfolgung, Exkommunikation oder Krankenhaus zur Folge hätte. Halten wir es also lieber mit Mark Twain, der sagt: „Gib jedem Tag die Chance, der Schönste deines Lebens zu werden.“ Weniger ist hier mehr als „alles oder nichts“.

Schwarze Kutten, weiße Kittel

Schwarze Kutten, weiße Kittel

Die Farbe der Kleidung hat Signalwirkung. So bedeutete schwarz früher, dass mensch in Trauer, und weiß, dass mensch eine (mehr oder minder) jungfräuliche Braut war. Heute treffen dieselben Farben andere Aussagen, etwa: „Mir egal, ob ich übernächtigt aussehe.“ oder auch „Ich trage dunklen Puder.“ Hier ein Blick auf die Extreme an beiden Enden des Regenbogens – unter Auslassung der dogmatischen Kontrastfarbenträger: Anhänger des Ku-Klux-Klans und Ninjas; Würdenträger in schwarz und Halbgötter in weiß.

Drüben im Dunkeln steht der Goth und trägt schwarz, weil es mit der Nacht assoziiert wird, an die Abgründe der menschlichen Seele erinnert und überdies gut kaschiert (Stichwort Babyspeck). Am liebsten wäre ihnen, sie würden den Eindruck erwecken, die Nächte bei unaussprechlichem Treiben auf dem Friedhof zu verbringen, mit Gevatter Tod auf Du und Du. Der schwarze Nagellack verdeckt die Graberde unter ihren Fingernägeln, der Kajal intensiviert den finsteren Blick aus jungen Augen, die noch kein echtes Elend gesehen haben. Goths sind in der Regel freundliche Leute, die bereitwillig Auskunft geben, wenn mensch sie fragt (und sich dabei nicht über ihren Musikgeschmack mokiert).

Hüben im Hellen schwebt der New Age Jünger in der Farbe des Lichts. Licht ist Energie, ist Liebe, ist sein Wesen. Wenn ihre Kleidung nicht vollkommen an den Weißen Riesen erinnert, dann deshalb, weil sie halt doch noch ein klein wenig im Irdischen verhaftet sind. Ihre Weißheit sollte mensch nicht mit Unschuld verwechseln: Sie sind massiv missionarisch unterwegs und tratschen gern über ihre Mit-Jünger. Weiss ist für sie weniger Mode, mehr Heilslehre. Die New Ager bilden sich ein, dass diese Farbe ihre Träger mit altersloser Leuchtkraft segnet, doch ein Blick ins Gesicht verrät meist mehr Lebenserfahrung, als die Jünger (diese alten Seelen in eitler Hülle) zuzugeben bereit sind.

Jenseits dieser Extreme sind schwächere Ausprägungen wahrzunehmen: Die „klassisch zeitlosen“ Schwarzträger tarnen die eigene Scheu, sich abzuheben, als „Style.“ Diese Raben im Reich der Paradiesvögel tragen schwarz, weil es einfach immer geht: klar, prägnant, unprätentiös. Black is the new Black, sozusagen. Bloss nicht durch den Griff zur Farbe angreifbar werden, denn Farbe ist Schwäche, und in Pastelltönen würden sie schlichtweg verrecken. Mensch kann es guten Stil nennen, klar. Mensch könnte es aber auch als Einfallslosigkeit oder Konformismus bezeichnen. Ihnen gegenüber stehen die Weißträger, die ernsthaft glauben, dass sie in dieser Farbe glaubwürdiger, dynamischer und gebräunter wirken. Wenn sie weiblich sind, kombinieren sie dazu Süßwasserperlen; wenn sie männlich sind, neigen sie zur Brustbehaarung. Der „ewige Urlauber“ ist der sprichwörtliche Schneeball in der Hölle: Weiß bleibt nun einmal nicht weiß in dieser Welt. Die Farbe verrät mehr über ihre Träger, als mensch wissen will: Wo sie gesessen und was sie gegessen haben.

Den Kontrastfarbenträgern möchte mensch Mut zu Hundertwassers Lieblingsfarbe wünschen: Dunkelbunt. Am Tag des Jüngsten Gerichts wird nicht nach Farbe sortiert…