In welchen Maßeinheiten wird Arbeit abgebildet? Bezahlt wird nach Stunden, Joule misst Energie, Kraft ist Masse mal Beschleunigung… alles nicht geeignet, das Wesen der erbrachten Arbeitsleistung in eine messbare Größe zu zerlegen, die auch nur die wesentlichsten Faktoren wie inneren Widerstand, Faulheitsrelevant, Ablenkungskorrelation und Zeitdruck berücksichtigt. 

Es ist an der Zeit, neue, brauchbare Maßeinheiten zu definieren. Der erste Vorschlag: die halbe Gretel.

Etymologie: Als ich noch in Heidelberg studierte… vor langen Jahren, als die Welt noch frisch und blank war und wir unseren Met in Talern bezahlten… wohnte ich für einige Zeit in einem Studentenwohnheim, nagelneu und weit draußen auf dem Acker. Das hatte sich so ergeben, weil meine beiden Abwesenheitssemester (Australien, Neuseeland, Indonesien) ein bisschen länger gedauert hatten und ich hinterher in meiner Heimatstadt jobben musste, um Schulden abzuzahlen. Da blieb keine Zeit für Wohnungssuchen.

Im Wohnheim gab es Wohneinheiten, die zur friedlichen Co-Existenz in Vierer-WGs einluden. Die Zusammenstellung der Mitbewohner erfolgte nach einem geheimen Algorithmus, den wir nie ganz durchschauten. Im ersten Semester waren wir: die blonde Sonja (dazu noch halb Schwäbin, halb Österreicherin – im Grunde ging jeder Witz dieser Zeit irgendwie auf ihre Kosten…), ein chinesischer Gast-Professor mittleren Alters, ich (weil mir auch auf der Weltreise nix anderes eingefallen war, was ich machen könnte, statt zu Ende zu studieren), und schließlich Gretel.

Gretel kam aus dem schönen Bergamo in Italien und verdankte ihren Namen dem Umstand, dass ihre Mutter dort als Deutschlehrerin arbeitete. Sie trug passenderweise ihre langen dunklen Locken in einem dicken Zopf und dazu noch eine Brille. Und sie war Disziplin pur!

Ich hörte eines Tages zufällig, wie sie sich mit dem chinesischen Professor einmal über uns unterhielt – Sonja, mich, und zwei, drei Freunde, die öfters mal vorbeikamen, um die ganze Nacht rauchend und trinkend in unserer Küche Karten zu spielen. Manchmal, wenn der Professor, der sinnvollerweise am anderen Ende der Stadt zu tun hatte, morgens um 5 die Küche betrat, saßen wir noch da und konnten sehen, wie er beim Türöffnen von dem ihm entgegenquellenden Rauch ein Stück nach draußen geschoben wurde.

Gretel und er unterhielten sich jedenfalls in Pidgin-Deutsch darüber, dass sie ja immer gedacht hätten, die Deutschen seien so fleißig und strukturiert. Ganz offensichtlich hatten wir dieses Vorurteil entkräften können, worüber sie etwas enttäuscht klangen. Beide entsprachen tatsächlich selbst diesem Ideal in vollkommener Weise. Das sollte, könnte man meinen, für die ganze WG reichen. Immerhin wollten wir den Schnitt nicht kaputt machen. Aber vor allem Gretel.

Sie war immer am Lernen. Immer. Sowie einer von uns „normalen“ Studies ein verquollenes Auge öffnete und durch den Zigarettenqualm linste, saß sie da. Oder lag auch da, im Bett, den Kopf  auf das schräge Kissen aufgelegt, schnurgerade und absolut symmetrisch wie wir anderen nur in der Gymnastik, die Decke faltenfrei und akkurat über sich gelegt, lesend und lernend.

Definition: Eine halbe Gretel als Maßeinheit für Arbeit bezeichnet ein Minimum an fünf Stunden konzentrierter Arbeit in sauberer, strukturierter Umgebung, die einer möglichen Ablenkung nicht den Hauch einer Chance lässt. Dinge wie soziales Leben, leibliches Wohl und körperliche Funktionen werden dabei weitestgehend ausgeklammert. Kernkompetenz einer Gretel ist der unbeirrt zu haltende Fokus. Mehr Mensch als Maschine, werden innerer Widerstand oder Faulheit unerbittlich ignoriert.

Ich habe es in dieser Woche (Montag bis Freitag) auf eine halbe Gretel gebracht.