Aufruhr auf Facebook: der „Zentralrat der wahnwichtelnden Aluhutträger“ ist nicht mehr aktiv – und keiner weiß warum. Die Anhänger der gemeinnützigen Organisation „Der goldene Aluhut“ zeigen sich ratlos, kommen aber weiterhin ihrer selbstauferlegten Pflicht nach, mit virtuellen Fingern auf die bizarrsten Auswüchse der Verschwörungstheorien im Netz zu deuten. Als da wären: Strichcodes
bündeln Energien und beeinträchtigen die Qualität von Nahrungsmitteln! NASA weiß über die Möglichkeit der Teleportation und enthält der Öffentlichkeit dieses Wissen seit Jahren vor! Die Erde ist eine Scheibe, die von Chemtrails im Bezug auf Wetter und Eiscremesorten beeinflusst wird, Echsen aus der Hölle wollen die Welt versklaven und Elvis lebt in einem Zürcher Bankschließfach! (Letzteres ist frei erfunden. Aber auch nur das.)
An dieser Stelle ein kleiner Ausflug in eine längst vergangene, analoge Zeit. Ein Freund von mir überraschte damals in seiner Studenten-WG einen Mitbewohner mit dem Kopf im Backofen. Der junge Mann war nicht suizidal, sondern wollte im Gegenteil sein Überleben sichern. Auf Nachfrage erklärte er, dass gerade außerirdische Raumschiffe die Erde mit Strahlen beschössen und die einzige Möglichkeit, sein Gehirn davor zu schützen, der Backofen böte. Mit Mühe war er davon zu überzeugen, dass ein Backblech, über den Kopf gehalten, denselben Schutz bieten könne. So saß man schließlich beisammen, die anderen barhäuptig, der eine unter seinem Blechdach. Und kam sich dabei sicher ziemlich allein und unverstanden vor.
Dank Internet bräuchte er sich heute nicht als Außenseiter zu fühlen: Er könnte in Realzeit posten, was Sache ist, und eine Gruppe gründen, wo er bei anderen Menschen mit ähnlichen Ängsten endlich die Akzeptanz fände, die ihm seine Mitbewohner vorenthielten.
Das Netz verbindet Menschen. Nie war es einfacher, alte Schulfreunde ausfindig zu machen, die einem noch die Rückgabe des Lieblingscomics schulden, den inneren Stalker im Hinblick auf den Ex auszuleben oder anonym Leute zu beleidigen, die eine andere Wahrnehmung der Welt haben als man selbst. Soziale Medien fördern Gemeinschaftssinn und Geselligkeit: Jede noch so weit vom gesellschaftlichen Konsens entfernte Neigung lehnt sich hier Gleichgeneigten entgegen. Der Nerd findet in den Game of Thrones-Foren die lang verweigerte Anerkennung; der Egomane pusht seinen Selbstwert mit der Anzahl seiner LIKES, der Fan exotischer Fleischeslüste findet jemanden, der ihn buchstäblich zum Fressen gern hat. (Doch das ist eine andere Geschichte.). All das, was in einem Realwelt-Rahmen möglicherweise Befremdung, Lokalverbot oder Verwahrung zur Konsequenz hätte, kann hier ungeniert gelebt werden, ob Fremdenhass oder Fachidiotenwissen.
Und so sitzen sie vor ihren Rechnern, jeder für sich allein daheim, die Vlogger und Blogger, gute-Fragen-Steller und Trolls, Smiley-Schicker und Google-Vertrauer. Stellt sich die Frage: Sind sie in diesem Moment wirklich allein? Einsame Seelen, die niemanden haben, der ihnen „in real life“ die Flöhe aus dem Fell klaubt? Oder bewegen sie sich nicht vielmehr innerhalb einer world wide Gemeinschaft – einer Gruppe von Menschen, die gewillt sind, jedem geposteten Pups Aufmerksamkeit zu schenken und flink die ersehnte Bestätigung zu tippen: „Ja genau, ich auch. LIKE!“. Die einem ermöglicht, voll Stolz zu sagen: „Mit dieser Meinung bin ich nicht allein!“ Man kann tatsächlich einen emotionalen Bezug zu einem Menschen herstellen, den man nie gesehen, nie berührt hat. (Man kann in der verständnisvollen, sonoren Stimme eines Navigationsgeräts all das finden, was man in der eigenen Beziehung vermisst. Aber auch das ist eine andere Geschichte.)
Wo ist sie denn dann, die Einsamkeit vor dem Rechner? Sind Social-Media-Kumpels nur ein schaler Ersatz für offline-Freunde? Oder eine echte Bereicherung, die, Kontinente und Klassen überwindend, zusammenfügt, was zusammen gehört? Wo findet „Begegnung“ eigentlich statt? Sicher nicht nur da, wo die Möglichkeit besteht, gegebenenfalls Körperflüssigkeiten auszutauschen. Im Internet berühren man sich auf geistiger Ebene – ob man nun gemeinsam meditiert oder mit axtschwingendem Avatar die „World of Warcraft“ durchpflügt. Und sich hinter Masken zu verstecken – das ist leider nicht allein dem virtuellen Auftritt vorbehalten.
Zugegeben: Die meisten Facebook-Freunde taugen nicht viel, wenn es um tatkräftige Hilfe beim Umzug geht. Aber sie können helfen, eine Wohnung zu finden und einen Transporter zu organisieren. Ist doch auch schon was.