oder: Verbale Energien sinnvoll nutzen

 

Erinnert ihr euch noch an die guten alten Zeiten? Damals, als Frauen gesehen, aber nicht gehört werden sollten? Eine „Dame“ hatte kultiviert zu sein: Sie sollte nicht die Stimme erheben oder widersprechen, sie durfte auf keinen Fall die Rede an sich reißen und sie musste wissen, wann sie zu schweigen hatte. Laut werden war Sache der vulgären Frauen der Unterschicht: Waschweiber und Fischhändlerinnen, Dirnen und Tratschmäuler.

Wie lang mögen diese Zeiten vorbei sein, mag man und frau sich fragen – ohne zu erkennen, dass wir noch mittendrin stecken. Inzwischen, ganz klar, zählt die Stimme einer Frau, sie darf Rederaum für sich beanspruchen und ihre Meinung vertreten. Aber laut sollte sie dabei nach wie vor nicht werden – und schon gar nicht ausfallend. Ein Blick auf die üblichen „Gesprächsrunden“, ob im Fernsehen oder realen Leben, in politischem, kulturellen oder beruflichem Umfeld, zeigt, dass aggressives Sprechverhalten einem Mann zugestanden – oft, so drängt sich die Vermutung auf, sogar abverlangt – wird. Er nimmt souverän den Rederaum ein, der ihm gebührt – auch dann, wenn der ihm nach den Regeln von Fairness und Höflichkeit gar nicht zustünde, etwa, wenn er anderen Gesprächsteilnehmern ins Wort fällt oder seine Zeit über Gebühr ausdehnt.

Doch eine Frau, die verbal offensiv auftritt oder, bewahre, gar mal ein vulgäres Wort gebraucht, ist sofort unten durch. Sie hat sich als „Mannweib“ diskreditiert, als „aggressive Emanze“ – und selbst, wenn sie die besseren Argumente hat, wird sie nicht mehr ernst genommen. Ironischerweise kann eine Frau mit denselben besseren Argumenten, wenn sie allzu „feminin“ auftritt (zurückhaltend, mit leiser, hoher Stimme, höflich), ebenfalls nicht punkten. Selbst, wenn sie sich mit subtilen verbalen Spitzen als die intellektuell Überlegene beweisen könnte, geht das meist im lauten, hektischen Rhythmus des Gesprächs unter. Da beißt die Maus keinen Faden ab: Eine Frau hat es schwer, sich Gehör zu verschaffen, wenn sie nicht gerade in einem kuscheligen Kollegenkreis unterwegs ist, wo sich alle an die Regeln solider Gesprächskultur halten oder einen „talking stick“ herumreichen.

Dieser soziale Druck hat sonderbare Begleiterscheinungen. Zum einen fällt auf, dass es sehr oft gerade andere Frauen sind, die ihre Geschlechtsgenossinnen abstrafen, wenn diese aus dem ihnen zugestandenen Raster fallen: Ganz schön ordinär ist die Schlampe geworden, die scheint es ja nötig zu haben.

Zum anderen geraten selbst starke Frauen so unversehens in die Rolle eines Opfers, wenn sie sich hinterher über diese Dynamik beschweren, die sie, solange sie selbst im Podium saßen, nicht angesprochen oder ausgehebelt haben. „Er hat sich angemaßt, für uns Frauen zu sprechen“, klagt sie, wenn es zu spät ist. Sorry, Süße, sage ich dann, aber du hättest halt auch mal deinen Mund aufmachen sollen. Aber ich kam doch gar nicht zu Wort! Hätte ich etwa so rumschreien sollen wie er? Das liegt mir nun wirklich nicht.“ Tja, Pech. Aber auch verständlich: Ruckzuck ist der Ruf ruiniert, und mit einer Reputation als Waschweib kann frau sich nur schwer behaupten.

Die besondere Kraft, die in einem derben KRAFTausdruck steckt, versagen wir Frauen uns deshalb allzu oft. Fluchen wie ein Bierkutscher, das ist das ultimative „Lautwerden“ – und wehe dir, wenn du dir diese belebende Energie des befreiten Abkotzens einmal anmaßt! Du spürst, wie deine Zuhörer zusammenzucken und unsichere Blicke austauschen. War die nicht eben noch ganz nett?, hörst du sie denken. Das ist doch eine Akademikerin! Hat sie was getrunken? Wohlgemerkt, ich spreche hier nicht vom medienwirksamen Kalkül, das hinter dem unflätigen Auftreten von Popsternchen, die ihr Image ändern wollen, oder C-Promis in entwürdigenden TV-Formaten steckt. Ich spreche von unser aller Alltag, der die soziale Schmiere eines gezielt eingesetzten Vulgarismus‘ durchaus gebrauchen könnte. Wir Frauen kennen und hassen alle jene Situationen, wo wir auf plumpe Anmachen oder massive Ungerechtigkeiten nicht mit einem verbalen K.o. reagiert, sondern versucht haben, ihnen auf „damenhafte“ Art zu begegnen. Ganz schwach.

Deshalb sage ich: Werdet laut, ihr Schlampen! Ganz gleich, welchen IQ, sozialen Status oder Bildungsstandard ihr im Kreuz habt. Ganz gleich, ob der laute Kerl euch gegenüber ein Generaldirektor, „Schöngeist“ oder emeritierter Wichtigtuer ist. Seid nicht leise, nur weil mann euch sonst eure Weiblichkeit absprechen könnte. Wenn ihr wirken wollt, wenn ihr gehört werden wollt, wenn es euch wichtig ist –

DANN WERDET VERDAMMT NOCH MAL LAUT!

(erschienen in Zeitpunkt Nr. 152, November 17, www.zeitpunkt.ch)