Die Verkäuferin hinterm Tresen sieht aus wie Grace Kelly. Sie riecht nach Autofahrten mit gutgebauten Erben, Affären mit Reedern und einer Villa am Comer See. Nicht sehr originell, ihr Vintage-Lebensentwurf, und sicher nichts für mich. Aber ich muss zugeben, dieser nostalgische Glamour hat was.
„Ich hätte gern ein neues Lebensmodell“, sage ich tapfer. „Gediegen, aber nicht langweilig. Und bezahlbar.“
Sie taxiert mich: „Normalerweise kommen die Leute früher im Leben zu uns. Viel früher. Da hat man dann doch eine wesentlich größere Auswahl. Jetzt müssen wir eben mit dem vorhandenen Material arbeiten.“
Ich schweige dazu. Es ist nicht meine Idee gewesen, meinen selbstgestrickten Lebensweg professionell aufrüschen zu lassen. Aber schließlich habe ich dann doch dem Druck von Werbung und Freundeskreis nachgegeben. Und heute ist es anders als früher, wo ja alles viel einfacher war. Damals gab’s nur wenige Parameter, die den Lebensweg bestimmten: Mann oder Frau? Falls ersteres: intelligent oder nicht? Falls zweiteres: gebärfähig oder nicht? Soziale Angehörigkeit: Familie mit Geld, Familie ohne Alles, urban oder ländlich. Soziale Auffälligkeiten: uneheliches Kind (sein oder haben). Mitglied der Kirche und Häufigkeit des Besuchs derselben. Umgang mit suspekten Elementen (Alleinstehende Mütter, Hippies, Vegetarier). Empfohlene Lebensmodelle: Kaufmann. Hausfrau und Mutter. Militär. Nonne. Abschreckendes Beispiel.
Früher stellte sich gar nicht die Frage nach einem „Lebensmodell.“ Da gab es ein Schicksal, in das man sich zu fügen hatte, und gut war’s.
Aber heute lässt sich nicht einmal die allererste Frage ohne weiteres beantworten: Mann oder Frau – oder Conchita Wurst? Wenn selbst die geschlechtliche Identität nicht länger der Biologie überlassen, sondern individuell hinterfragt wird, als hätte man im Leben nicht schon Entscheidungen genug zu treffen – da kann man sich vorstellen, wie kompliziert sämtliche anderen Faktoren geworden sind. Als Laie ist man schnell überfordert.
„Haben Sie an etwas Spezielles gedacht?“ fragt Grace Kelly. „Wir haben sortiert nach Sonderangeboten, Neuheiten, Evergreens, Bestsellern und Trends. Wenn Sie keine Platinum-Kreditkarte haben, kommen die exklusiven Maßanfertigungen nicht in Frage. Aber es gibt eine enorme Auswahl von der Stange, die sich ausgesprochen individuell anfühlen.“
„Das ist ja mein Problem: Dieses Überangebot! Diese unerträgliche Fülle! Mir quillt die Wahlfreiheit so langsam aus den Ohren.“
„Leider kann ich Ihnen nicht alle Konsumentenentscheidungen ersparen. Ein paar müssen Sie schon selbst treffen. Wollen wir mit dem Privatleben anfangen?“
Ich nicke tapfer. Früher waren es noch drei Generationen unter einem Dach, später dann die Kernfamilie mit Papa, Mama, Kind und Fernseher. Doch mit der Möglichkeit, das erdrückende Postulat „Bis dass der Tod euch scheidet“ nicht durch Gattenmord, sondern eine weniger brachiale Scheidung abzukürzen, hat sich langsam die Beliebigkeit ins Familienleben geschlichen und schließlich das Patchwork-Modell (auch bekannt als Beziehungs-Recycling) durchgesetzt. Ich erkläre, dass ich gern zu zweit durchs Leben ginge. Auch wenn das inzwischen ziemlich überholt ist.
Sie fragt: „Wie stellen Sie sich Ihren Partner vor? Mann oder Frau? Oder Conchita Wurst? Jünger oder älter? Welche Nationalität? Hautfarbe? Berufstätig? Wenn ja, in welcher Branche? Single?“
„Single wär nicht schlecht…“, stammle ich perplex.
„Gerne. Niemals zuvor verpartnert? Das würde die Auswahl in Sachen sozialer Unauffälligkeit verringern… Also lieber verwitwet? Geschieden? Getrennt lebend? Nicht getrennt lebend, aber untreu? Unentschlossen? Mit Kindern aus einer früheren Beziehung? Ehelich? Erbberechtigt? Genetisch optimiert?“
„Ähh….“
„Sie haben natürlich die freie Wahl der Fortpflanzung: Adoption, Reagenzglas, Samenraub oder Klonen. Das schafft eine Fülle an völlig neuen Kombinationsmöglichkeiten.“
Stimmt. Wie in einer brasilianischen Telenovela sind wir jetzt alle irgendwie über mehrere Ecken verwandt oder verschwägert. Das setzt den Gedanken von der Menschheit als einer einzigen großen Familie auf einer ganz praktischen Ebene um. Aber leider komme ich mit der Terminologie nicht mehr zurecht. Was ist die verwandtschaftliche Bezeichnung für den Halbbruder des Zweitpartners einer Leihschwester stiefmütterlicherseits? Ist die Tante der Halbcousine meines dritten Lebensabschnittsgefährtens meine Schwipp-Schwapp-Schwägerin zweidrittel Grades?
„Vielleicht sollten wir doch mit etwas Einfacherem beginnen.“ murmle ich, jetzt schon überfordert.
„Gerne. Wie sieht es denn mit der spirituellen Lebensgestaltung aus? Könnten Sie sich vorstellen, ein paar Jahre bei Scientology mitzumachen und anschließend eine Medienkarriere als Aussteigerin aufzubauen? Möchten Sie eine eigene Sekte gründen? Vielleicht in den Dschihad ziehen? Sie könnten an den Wochenenden Buddhismus praktizieren. Oder doch lieber Kirchensteuer zahlen und dafür eine weiße Hochzeit? Aber irgendwie sehe ich Sie eher als New Age-Typ… Haben Sie sich schon mal mit Schamanismus beschäftigt?“
Ich mag aber nicht nackig durch die Wälder hüpfen. Also erkläre ich, dass ich keine Berufung spüre. Zu gar nichts.
„Gerne, Atheistin also“, sagt sie und rümpft die Nase. „Das ist schon sehr 90er Jahre, aber vielleicht können wir es mit den Karriere-Optionen ausgleichen. Wobei ich das Wort hier in seiner weitesten Bedeutung gebrauche.“
„Optionen?“
„Karriere. Da hätten wir schon vor Jahren die Weichen dafür stellen müssen. Sie sind nicht besonders ehrgeizig, nicht wahr?“
„Dafür reise ich viel“, entgegne ich trotzig und höre gar nicht mehr hin, als sie mir vom ersten, zweiten und dritten Arbeitsmarkt erzählt und vom ersten, zweiten und dritten Bildungsweg. Sie spürt meine Abwehr und meint versöhnlich: „So schlimm ist es ja auch wieder nicht. Eine Midlife-Crisis ist mittlerweile völlig optional. Noch vor wenigen Jahren hätte ich es Ihnen nicht ersparen können, sich wenigstens ein paar Katzen oder ein Cabrio anzuschaffen.“
„Leider bin ich allergisch“, sage ich, „gegen Katzenhaare und Zugluft.“
„Dann wär es eben ein leichter Tabletten-Missbrauch geworden, oder Töpfern in der Toskana. Übrigens jetzt schon ein Klassiker. Und mittlerweile viel breitgefächerter in der Wahl der Zielorte. Töpfern in Novosibirsk wird der Renner der nächsten Saison.“
Zwei unerträgliche Stunden und gefühlte Jahre später wähle ich in meiner Not den Robinson: eine einsame sonnige Insel, ein williger Freitag und keinerlei Zukunftsplanung. Ein Leben von einer Kokosnuss zur nächsten. Die limitierte Sonderedition ohne Rettung am Ende ist gerade im Angebot.
Ich fasse es nicht! Wo ist denn der Laden? Sicher in München. Arme Martina. Und einen lieben Gruß an Freitag.